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“Es wäre schön, Herr Kurz, wenn sie einmal an unserer Seite wären”

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So, Leute: Ich bin grantig. So richtig, richtig grantig. Und deshalb wird das jetzt ein langer Text. Möge es lesen, wer noch fähig ist, lange Texte zu lesen.

Ich mach hier seit 2 Jahren meine (freiwillige, ehrenamtliche, gänzlich unbezahlte) Arbeit. Ich helfe Menschen, die von sehr weit her geflohen sind, bei uns heimisch zu werden. Und zwar Tag für Tag für Tag. Man nennt das Integrationsarbeit. Das ist WIRKLICHE Arbeit. Und zwar von beiden Seiten.

Oft sind es Kleinigkeiten, die ich tue. Heute wieder: Hätten sie doch glatt ihre Chorprobe versäumt, hätte ich nicht “Jalla, Jalla!” gerufen und sie hingebracht. Dabei ist am Freitag und Samstag DAS Konzert. Wo sie unter anderem auch jodeln. Vier arabische Männer, die jodeln! Und unendlich berührend: Der ganze Chor singt “Give peace a chance”, teilweise auf arabisch. Und dann können meine vier neuen Freunde fast nicht mehr singen, weil sie so über die arabische Aussprache der anderen Chormitglieder lachen müssen …

Manchmal ist es was Größeres. Arztbesuche, bei denen sie nicht völlig allein gelassen werden sollten. Umzüge in eigene Wohnungen. Sowas. Oder Tägliches: Die gar nicht mehr so kleine A. auf ihrem Weg durch unser Schulwesen zu begleiten.

Ich mache das gerne. Ich mache das mit viel Liebe. Und ich will GAR NIX davon hören, wie toll das ist, dass ich das tue. Ich kriege täglich mehr als genug an Zuwendung und Liebe zurück. Mir ist noch niemand begegnet, der nur wegen unserer Mindestsicherung zu uns gekommen ist. Kein einziger der Bewohner unserer Flüchtlingshäuser wusste davon, bevor er hier ankam. (Zitat Livia Klingl: “Sie sitzen nicht am Hindukusch und googeln die Mindestsicherung.”)

Alle sind jetzt eher ziemlich verdutzt, wie lange es bei uns dauert, bis sie Deutschkurse besuchen dürfen, wie viel das alles kostet, wie viel Zeit vergeht, bis sie zu einem ersten (Asylantrags-)Interview zugelassen werden, sie wollen arbeiten und dürfen nicht.

Sie sitzen herum. Und freuen sich, dass keine Bomben auf ihren Kopf fallen. Das ist es auch schon. Denn das ist es, vor dem sie geflohen sind. Oder manchmal auch vor einem netten Familienoberhaupt, dass sie gerne totschlagen wollte. Oder davor, verhungern zu müssen. Oder weil es nicht lustig war, homosexuell zu sein, dort wo sie herkommen. Oder zur Sexarbeit in einem Bordell gezwungen zu werden. Haben wir alles hier. Ich freu mich über jeden von ihnen, der es hierher geschafft hat.

Grantig macht mich, und zwar sehr, wenn ich lese und höre, was ein junger Mann, dem es in seinem Leben ganz sicher noch nie an etwas gefehlt hat, jetzt an wüsten Fantasien entwickelt, über Lager auf Inseln.

Grantig macht mich, und zwar sehr(!), dass alleine in der letzten Woche an die 700 (800, 1000? wer weiß!) Menschen ertrunken sind. Weil Menschen wie dieser jugendliche Politiker dachten, es sei eine gute Idee “die Balkanroute trockenzulegen, einen positiven Dominoeffekt zu erzeugen” und bedauernd meinte, “dass es ohne schlimme Bilder halt nicht gehen wird”.

Grantig macht mich vor allem: Dass ich (und das meine ich stellvertretend für Tausende meiner tollen Österreicher!) von Politikern wie diesem jungen Mann (aber auch vielen anderen) verantwortlich gemacht werde dafür, dass wir hier Flüchtlinge haben.

Nein, Herr Kurz, wir haben sie nicht geholt. Unsere “Willkommenskultur” ist nicht schuld. Auch nicht die der Frau Merkel. Die viel zitierten “Push-Effekte” müssen jemanden erst einmal dazu bringen, all sein Gut zu verkaufen, um sich in so ein Boot zu setzen.

Alle legalen Wege, nach Europa einzureisen, wurden abgeschafft. (Botschaftsasyl). Es gibt keinen legalen Weg mehr. Und Sie, Herr Kurz, beklagen jetzt die “Massen der illegalen Migranten und Wirtschaftsflüchtlinge“.

Sie kommen. Weil sie kommen müssen. Und sie riskieren ihren Tod dabei, egal wie schwer Sie es ihnen machen, Herr Kurz.

Weil Tod ist Tod. Dort ist er sicher.

Wir holen sie nicht. Wir tun nur das, was getan werden muss. Es wäre schön, Herr Kurz und Konsorten, wenn sie einmal, nur einmal(!) an unserer Seite wären. Dann verstünden sie, dass es nicht um Zahlen geht. Es sind lauter einzelne Menschen, die hierher kommen. Aus unterschiedlichen Gründen. Aber im Grunde nur, weil sie um ihr Leben rennen.

Ganz sicher können nicht drei Länder in der EU diese Herausforderung bewältigen. Deshalb erwarte ich mir von Ihnen, Herr Kurz, Druck auf die unsolidarischen Länder. Ich erwarte mir auch wirklich durchgeführte Umsiedlungsprogramme. Ich erwarte mir einen Stopp der Waffenlieferungen. Es sind auch österreichische Waffen, mit denen z.B. im Jemen geschossen wird!

Was ich mir ganz sicher nicht erwarte, sind Fantasien von Inseln, die zu Lagern werden.

Und vor allem erwarte ich mir keinen Hohn und Spott und Verächtlichmachung meiner, nein UNSERER Arbeit.

Ach. Grantig macht mich so viel.

Wer will das schon lesen?

Morgen geh ich wieder in unsere Flüchtlingshäuser. Und tue, was getan werden muss.

Danke an alle, die das Gleiche tun. WIR SIND VIELE.


Den Text hat Corry Seher auf Facebook veröffentlicht und uns freundlicherweise zur Wiederveröffentlichung zur Verfügung gestellt.

Das Titelbild des Außenministeriums steht unter CC2.0-BY von auf Flickr.

Der Beitrag “Es wäre schön, Herr Kurz, wenn sie einmal an unserer Seite wären” erschien zuerst auf zurPolitik.com.

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